Liebe Leserin, lieber Leser!
Ohne selektive Authentizität wäre keine Zusammenarbeit möglich, kein Zusammenleben und auch keine U-Bahn-Fahrt.
Selektive Authentizität ist eine komplexe Kulturleistung. Sie bedeutet, dass nur diejenigen authentischen Gefühle geäußert werden, die gleichzeitig sozial positiv wirken; alle anderen werden nicht ausgesprochen – oder erst dann, wenn ein Weg gefunden wird, sie als positive, ermutigende, einbeziehende Wünsche auszudrücken. Wie es Kinder mühevoll lernen: das geschriene „ich hasse Dich“ im Streit mit dem Bruder in ein „ooookayyyy, wir teilen, ja?“ zu verwandeln.
„Spontanität muss wohl überlegt sein“. Was von dem Satiriker Claudio Michele Mancini als Scherz gedacht war, drückt Wahres aus: die Bedeutung psychischer Disziplin im menschlichen Miteinander. Auch wenn in Unternehmen mit überbordenden Feedback- und Ehrlichkeitsappellen Authentizität gefordert wird (von wem? für wen?), ist es keineswegs sinnvoll, im Job stets authentisch Gefühle und Gedanken zu äußern.
Menschen haben einen bedeutsamen, einzigartigen Wesenskern, wie eine stark ausgeprägte Fürsorge für andere, großen geschäftlichen Weitblick oder leidenschaftliche vertriebliche Ambition, die zu Empörung, Wut, Besserwisserei und Abwertung anderer führen könnten. Doch gezeigt und meist auch gefühlt wird ein situationsangepasstes Rollenverhalten. Der eigene Standpunkt wird nicht spontan gefühlsmäßig ausgelebt, sondern integrierend und strategisch vertreten, um andere dafür zu gewinnen. Diesen Unterschied haben wir in einem Artikel für den Spiegel beschrieben: Warum Sie im Job nicht authentisch sein müssen.
Menschen leben in unterschiedlichen Rollen und reagieren auf Rollenanforderungen autonom.
„Ganz ich selbst sein“, ist deshalb unmöglich. Jedes Selbst hat unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Facetten. Verschiedene Situationen und Rollen triggern und erfordern in ihnen unterschiedliche Gefühle, die auch unterschiedliche Verhaltensweisen hervorbringen:
Wenn Sie mit Ihrem Kleinen auf dem Spielplatz sind, haben Sie Mitgefühl mit dem Mädchen, dessen Mutter sich die zwei Euro für eine Runde Karussell nicht leisten kann, und Sie bezahlen für beide. Im Vorstandsmeeting stimmen Sie für die Auflösung des Call Centers, in dem vorwiegend Mütter in Teilzeit arbeiten. Sie zeigen kein Mitgefühl, sondern argumentieren ganz kühl für anständige Abfindungen, aus „rationalen Gründen“, um Ihre Kollegen zu gewinnen. Ihr inneres Anliegen bleibt, doch Sie kennen viele unterschiedliche Empfindungen, und haben ein großes Verhaltensrepertoire. Ihr Mindset ist flexibel, ohne zu lügen oder sich zu verbiegen. Das ist es, was Menschen als geschliffenen Umgang empfinden.
Gesellschaftlich sicheren Menschen fällt das leicht, sie bewegen sich im 5-Sterne-Hotel ebenso souverän wie als Helfer bei der Tafel. Für Menschen mit sozialen Ängsten, oder für alle, die die Rollencodes nicht kennen, ist jede Anpassung anstrengend, da der Rollenanpassungsprozess nicht autonom verläuft. Doch sie können es lernen.
Wir sind an Ihrer Seite,
Ihre Dorothea Assig und Dorothee Echter
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